112-Peterson: Wo die Postmodernisten irren

Postmodernisten sind keineswegs dumm. Ganz im Gegenteil. Jacques Derrida und Michel Foucault beispielsweise, zwei berühmte französische Intellektuelle, welche an der Spitze der postmodernen intellektuellen Revolution standen, waren beide außerordentlich intelligent. Das bedeutet nicht, dass sie recht haben, aber es bedeutet definitiv, dass sie mehr als fähig sind, eine Argumentation zu führen, die schwer zu entwirren ist.

Beginnen wir mit dem, wovon ich glaube, dass es die wichtigste und mächtigste Behauptung des Postmodernismus ist. Eine Behauptung, die ich tatsächlich für richtig halte und die auch viele andere Gebiete durcheinandergebracht hat, darunter erstaunlicherweise die künstliche Intelligenz. Diese Behauptung der Postmodernisten geht in etwa so: „Es gibt eine unendliche Anzahl von Möglichkeiten, Phänomene zu interpretieren, selbst wenn die Anzahl der Phänomene endlich ist.“ Das ist in der Tat richtig. Es ist einer der Gründe, weshalb es Menschen so schwerfällt, künstliche Intelligenz zu entwickeln, die in einer realen Umgebung agieren kann. Es hat sich herausgestellt, dass die Komplexität der Welt es nahezu unmöglich macht, sie in einem technischen Sinne wahrzunehmen.

Viele Psychologen glauben heute, dass Kognition „verkörpert“ ist. Sie argumentieren, dass Wahrnehmung nur möglich ist, wenn der Geist in einem Körper verortet ist, der einem bestimmten Satz an Beschränkungen unterliegt. Wir widmen einen enormen Anteil unserer neurologischen Kapazitäten der Verarbeitung von Sinneseindrücken; nur so können wir einen annähernd wirklichkeitsgetreuen Eindruck der Welt bekommen. Das bedeutet aber nicht, dass die Wahrnehmung ein einfaches Problem ist. Es ist tatsächlich ein sehr kompliziertes Problem und die Postmodernisten hatten im Prinzip recht: Es gibt eine nahezu unendliche Anzahl an Möglichkeiten, eine endliche Anzahl von Phänomenen wahrzunehmen und zu interpretieren.

Korrekte Grundannahme,  falsche Schlussfolgerung

Diese Feststellung ist deshalb so interessant, weil sie einem ermöglicht, jedwede Interpretation anzugreifen. Das ergibt sich aus der Tatsache, dass es unzählige Möglichkeiten gibt, eine bestimmte Situation zu interpretieren. Man kann leicht zu der Schlussfolgerung gelangen, dass keine dieser Interpretationen gegenüber irgendeiner anderen den Vorzug bekommen sollte, und genau das tun die Postmodernisten.

Das ist allerdings falsch. Der Postmodernismus basiert auf einer korrekten Grundannahme, leitet daraus jedoch die falsche Schlussfolgerung ab. Denn obwohl es eine sehr große Anzahl möglicher Interpretationen der Welt gibt, bedeutet dies nicht, dass diese Interpretationen alle brauchbar sind.

Nun könnte man fragen, was genau eine Interpretation „brauchbar“ macht. Ich denke, dafür gibt es mehrere Kriterien. Zunächst sollte man berücksichtigen, dass es hier um Lebewesen geht, die die Welt betrachten und interpretieren, und dass es einen breiteren evolutionären Kontext gibt. Die Evolution löst das Problem der unendlichen Anzahl von Interpretationen, indem sie alle Lebewesen umbringt, die die Dinge zu schlecht interpretieren, um zu überleben. Das ist wahrscheinlich eines der stärksten Argumente für die Richtigkeit der Evolutionstheorie.

Es hat dreieinhalb Milliarden Jahre Evolution gebraucht, um Geschöpfe wie uns hervorzubringen. Geschöpfe, die die Welt – die unmöglich zu interpretieren ist – gut genug interpretieren können, um etwa 80 Jahre am Leben zu bleiben und in diesem Zeitraum vielleicht auch noch Nachkommen zu zeugen. Dreieinhalb Milliarden Jahre, und das ist das Beste, was wir zustande gebracht haben.

Die Notwendigkeit, mit Anderen zu kooperieren

Die Evolution löst also das schwierige Problem der Interpretation, indem sie eine enorme Anzahl an Varianten hervorbringt und dann beinahe alle davon umbringt. Das ist natürlich eine furchtbare Lösung. Aber worauf ich hinaus will, ist Folgendes: Interpretationen werden durch elementare Dinge begrenzt, die für Lebewesen relevant sind. Leid und Tod sind die wichtigsten Beschränkungen. Seine Interpretationen sollten ein Lebewesen, soweit es geht, vor übermäßigem Leid und vor dem Tod schützen. Das scheint keine besonders strittige Behauptung zu sein, sofern man keine selbstmörderische Neigung hat.

Ein weiterer Faktor, der unsere Interpretationen begrenzt, ist die Notwendigkeit, mit Anderen zu kooperieren und zu konkurrieren, und das in der Regel nicht nur ein einziges Mal, sondern immer wieder, da wir den selben Menschen in verschiedenen Kontexten begegnen. Wir müssen also nicht nur dazu in der Lage sein, mit anderen zu kooperieren und zu konkurrieren, sondern dieses Verhalten auch reproduzieren können.

Kurzum: Wir wollen nicht zu sehr leiden, und wir wollen nicht sterben, und wir wollen mit anderen kooperieren und konkurrieren – und das über lange Zeiträume. Und vielleicht möchten wir dies auch mit einer bestimmten Zielsetzung tun, weil wir Menschen normalerweise Ziele verfolgen. Es gibt Dinge und Ergebnisse, die uns wichtiger sind als andere, daher setzen wir uns diese zum Ziel. Wir müssen also unsere Interpretationen auf eine Weise beschränken, die die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass unsere Ziele eintreten.

Der Punkt ist: Eine realistische Interpretation der Welt erfordert enorme Beschränkungen. Die Behauptung, es gäbe eine unendliche Anzahl an Interpretationen, zerfällt also bei näherer Betrachtung. An dieser Stelle machen die Postmodernisten ihren ersten großen Fehler. Sie haben die intrinsischen Beschränkungen der Interpretation stark unterschätzt.

Dieser Beitrag erschien unter dem Titel „What Postmodernism Got Right & How It Fails“ auf dem YouTube-Kanal Jordan B Peterson Clips von Jordan B. Peterson.

Foto: jordanbpeterson.com

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Rolf Lindner / 14.11.2018

Was man unter Postmoderne versteht, habe ich mir in Wikipedia angeschaut, und komme zu dem Schluss, dass es um eine Art Beliebigkeit geht, bei der jede Aussage die gleiche Wertigkeit hat. Das ist aus naturwissenschaftlicher Sicht schlicht und einfach Blödsinn, könnte aber im geschwätzwissenschaftlichen Bereich durchaus Gültigkeit haben, denn Aussagen in diesem Bereich sind oft wertlos und damit gleichwertig.

Juliane Mertz / 14.11.2018

Es ist ein schönes Beispiel für das Missverständnis der Evolution, wenn das durchschnittliche Lebensalter einer Spezies als Erfolgskriterium bezeichnet wird. Jener einzelne Mensch, dessen wichtigstes Ziel das Erreichen eines hohen Lebensalters ist, ist bezüglich der Evolution so mit das untauglichste, was es in seiner Art gibt. Und ich denke, er ist bald erledigt. Sein Platz wird genau von jenen eingenommen, die etwas mehr leiden und etwas mehr sterben wollen - für ihre Nachkommen, für ihre Gemeinschaft oder für ihren Gott.

Marcel Seiler / 14.11.2018

Wenn man, wie es viele in Deutschland tun, die deutsche Selbstverachtung und den Wunsch nach der Vernichtung der eigenen Kultur umsetzen will, kommt man zu anderen Interpretationen als die deutschen Landsleute, die ihre Kultur schätzen, mögen, und die die Weiterentwicklung dieser Kultur statt ihrer Vernichtung wollen. Dies ist in Deutschland die Grundursache des Kulturkampfes, den wir zur Zeit beobachten. Jordan Petersen ist dabei auf der Seite derjenigen, die die Wertschätzung und Weiterentwicklung vertreten; deshalb hasst ihn die deutsche Linke.

Werner Arning / 14.11.2018

Es gibt solche, die glauben, alles sei eine Frage der Interpretation. So als gebe es keine objektive Wahrheit. Jeder habe seine subjektive Wahrheit. Und alle diese „Wahrheiten“ seien mehr oder weniger gleichrangig, alle seien irgendwie gültig. Die das glauben, gehen häufig auch davon aus, dass ja alles Konstrukt sei. Die Welt könne auch völlig anders betrachtet werden, als wie wir es tun. Auf Erfahrung legen sie keinen großen Wert, denn auch diese unterliege ja einer subjektiven Sichtweise. Diejenigen, die das denken, glauben häufig auch, dass es keine Geschlechter gebe, oder eben unbegrenzt viele. Sie relativieren eigentlich alles. Natürlich auch jede Vorstellung von Gott oder jede Art von Glauben. Und da sich ihr Denken bis hin in alle möglichen Zeitschriften durchgesetzt hat, kommen dann so häufig zu hörende Aussagen wie „An ein höheres Wesen glaube ich schon irgendwie“ heraus. Gewissheiten, die früher selbstverständlich waren, gehen dabei verloren. Es ist sicher gut, Dinge zu hinterfragen, Fragen zu stellen, doch wurden die verlorengegangenen Gewissheiten durch Neue ersetzt : Klimawandel, sexuelle Beliebigkeit, bestimmte Vorstellungen von Gleichheit und Gerechtigkeit, Ablehnung von technischem oder industriellem Fortschritt usw. Die Frage ist, kann man mehrere tausend Jahre alte Gewissheiten einfach ersetzen durch neue „Gewissheiten“? Interessantes Experiment oder völlige Verwirrung? Womit haben wir es zu tun? Und wie wird die Menschheit darauf reagieren?

sophie mut / 14.11.2018

Angelus Silesius (Johannes Scheffler, 1624 - 1677, schlesischer Arzt und Dichter) : “Mensch werde wesentlich :/ denn wann die Welt vergeht / so fällt der Zufall weg / das Wesen   das besteht.”

Franz Altmann / 14.11.2018

Ein bisschen lineare Algebra gefällig? Wenn sich zwei Flächen im Raum schneiden, bekommt man eine Schnittgerade, die wie jede Gerade aus eine unendlichen Anzahl von Punkten besteht., D.h., die Aufgabe hat eine unendliche Anzahl von Lösungen—was nicht bedeutet, dass jede Lösung korrekt wäre, denn die unendliche Anzahl richtiger Lösungen bildet nur eine Teilmenge der unendlichen (“unendlicheren”) Anzahl von überhaupt existierenden Punkten! Freilich, auf dem Bildungsniveau von “Ey Mann, in Madde war ich schon immer sch**e; lass uns lieber Bude gehen und Döner mit ohne scharf essen” begreift man solche subtilen Differenzierungen nicht leicht. Manchmal scheint mir, dass die Grünfantilen gerade aus dem Grund, dass sie keine *wirklichen* Differenzierungen verstehen, stattdessen im Sinne eines Cargo-Kults erfundene Differenzierungen spielen: Alles nur Einzelfälle!

Leo Anderson / 14.11.2018

“Die Evolution löst das Problem der unendlichen Anzahl von Interpretationen, indem sie alle Lebewesen umbringt, die die Dinge zu schlecht interpretieren, um zu überleben.” Made my day.

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