Silvia Meixner / 04.02.2013 / 22:48 / 0 / Seite ausdrucken

Silvis Culture Club (30): Tiroler Tagebuch. Jeder ist ein Yeti

Die Schneeschuhwanderer sind die modernen Idioten der Winterpisten. Während die Tourenskifahrer und Snowboarder ein Selbstbewusstsein an den Tag legen, das man getrost als Arroganz bezeichnen könnte, sind die Yetis des 21. Jahrhunderts getragen von Bescheidenheit. Outlaws in langen Unterhosen, eine schicke, bunte Hose drüber, damit es nicht ganz so peinlich ist. Schneeschuhwanderer stehen eigentlich immer nur im Weg herum, Skifahrer würden sie am liebsten, wenn das nicht strafbar wäre, mit Vollgas umfahren, weshalb sie sich meistens schüchtern an den Rand der Pisten sammeln, um gemeinsam den Aufstieg zu wagen. Gemeinsam und trotzdem einsam, denn wer sich am Rande einer Gesellschaft oder einer Skipiste bewegt, gehört eben nicht wirklich dazu.

Mein Selbstversuch startet am Beginn eines schönen, aber recht steilen Hanges, der nach einem Skilift schreit. Leider haben die Obsteiger „ihren“ Skilift hier auf dem Grünberg vor zwei Jahren abgebaut. Ja, sind die denn narrisch g’worden? Nein, behaupten sie. Alles Taktik, denn ein formidables Skiparadies mit Dutzenden Skiliften, Massentourismus und Après-Ski-Bars, in denen bis zum Umfallen geschunkelt wird, wäre aus dem Mieminger Plateau in der Nähe von Innsbruck sowieso nie geworden. Zu teuer, zu viel Mainstream, das passt nicht in die Gegend, in der die erfolgreiche Fernsehserie „Der Bergdoktor“ gedreht wurde und in der trotzdem kein Massentourismus herrscht. Keine Fans da, die die Originaldrehorte besichtigen wollen. Irgendwie macht das die Gegend liebenswert. In den Bergen wird den Menschen gern Sturheit nachgesagt. Also weg mit dem Skilift! Ein kleiner ist noch da, der für die Kinder, die haben eine riesige Piste nur für sich allein, ein Traum. Also Tabula rasa, haben die Einheimischen nach langen Diskussionen gesagt und den Skilift beherzt abgebaut. Wir Schneeschuhwanderer und die Tourengeher sind sozusagen die Nutznießer dieser Entscheidung, die unter den Bewohnern Obsteigs nicht nur Freudengeschrei ausgelöst hat. Aber man hat sich hier, in einem der schönsten Wandergebiete Österreichs, eben für den sanften Wintertourismus entschieden. Und der ist für den Reisenden immer mit Muskelarbeit verbunden.

Sanfter Tourismus schont die Landschaft, aber nicht die Touristen. Das war jetzt ein Witz. Auf geht’s! Es hat gerade viel und schön geschneit, sodass ich damit rechne, dass gleich Rotkäppchen und der Yeti, das geheime Liebespaar der Alpen, auftauchen wird. Oder Bambi. Oder alle drei. Die Bäume biegen sich sanft unter der Last der weißen Pracht, es ist hier atemberaubend kitschig. Der perfekte Tag, um eine neue Sportart auszuprobieren. In Berlin habe ich mir großartige Bergschuhe gekauft, sie tapfer im Kiez eingelaufen und dabei die grinsenden Blicke der Preussen ignoriert und schnalle mir nun die ovalen Aluminium-Plastik-Gehhilfen um. Mein Ratschlag: Verwenden Sie nur perfektes, neues Gerät! Meine Leih-Schneeschuhe sehen ein wenig ausgeleiert aus und später am Berg wird sich mein Optimismus, dass es schon irgendwie gehen wird mit der Ausrüstung, rächen, aber noch bin ich frohgemut.

Frische Luft, blauer Himmel, Sonnenschein, Berge. Wenn es richtig steil wird, kommen die Eisenkrallen vorne unter den Schuhspitzen zum Einsatz. Das Gemeine an den Bergen ist, dass sie von unten betrachtet zwar oft steil aussehen, aber niemals unbezwingbar, unter anderem auch deshalb, weil man schließlich rauf will auf den Gipfel und sich Mut machen muss. Erreicht man die Mitte des Hügels, dreht man sich um und blickt stolz gen Tal. Aber nur kurz, denn der Rest des Berges wartet. Und das letzte Drittel ist immer das längste, egal, was Mathematiker oder vermeintliche Experten, die in Allensbach sitzen, behaupten.

Vor und hinter mir fallen tapfere BergfreundInnen um, es ist halt recht steil hier. Der Berg ist gerecht, er macht alle gleich.Wir mit den Schneeschuhen sind, wenn es richtig steil wird, ein bisschen im Vorteil, weil wir wendiger sind und diese Eisenkralle unter den Sohlen haben, für die ich ihrem Erfinder hundertfach danke. Leider habe ich Schneeschuhe erwischt, die tausendfach im Einsatz waren und schon ziemlich ausgeleiert sind, was die Freude am Sport drastisch minimiert, da der Halt der Schnallen, die meine Füße an die Schneeschuhe binden sollen, zu wünschen übrig lässt. Mein Knie protestiert, es ist saukalt, ich versuche, meine gute Laune zu behalten.

Hinter dem steilen Hang liegen Biegungen, mal steil, mal sanft und irgendwo da oben ist ein Gipfel. Vielleicht. Hoffentlich. Fragen Sie nie einen Tiroler, wie weit es noch ist, Sie erhalten immer zwei Kinder-Antworten: „Wir sind gleich da!“ oder „S’isch nimmer weit!“ Nach zweieinhalb Stunden Aufstieg beinahe nonstop weiß der Stadtmensch zur Abwechslung auch mal, was er geleistet hat, indes der Tiroler milde lächelt, weil es für ihn bestenfalls ein kleiner Sonntagsspaziergang war.

Durchgeschwitzt erreichen wir die ehemalige Bergstation des abgebauten Skilifts. Die Aussicht! Herrlich! Selten hat heißer Tee so gut geschmeckt und wir Schneeschuhwanderer tauschen mit den coolen Tourengehern, die erstaunlicherweise auch nicht schneller waren als wir, die Schokolade. Zeig‘ mir deinen Müsliriegel und vielleicht bekommst Du meinen. Oben in den Bergen kennt man eben nur Kameradschaft.

Die Tourengeher entfernen nun das geheimnisvolle blaue Spezialfell, das sie vor dem Aufstieg auf die Unterseite ihrer Ski angebracht haben und das ihnen perfekten Halt beim Aufstieg bot und sind bereit zur rasanten Abfahrt. Die Schneeschuhwanderer besinnen sich darauf, dass echte Hobbysportler sie bestenfalls belächeln und machen sich innerlich bereit, wieder mal im Weg zu stehen, denn es geht Schritt für Schritt runter ins Tal und ich frage mich, worin genau die Belohnung für uns liegt. Auf geht’s, immer runter und in meiner schlingernden Bindung habe ich so gut wie keinen Halt und hätte jetzt gern einen Lift zum Runterfahren (ein Teil der Sessel des Lifts wird ab kommenden Sommer übrigens unten im Tal stehen, im Garten des schönen Hotel „Stern“).

Die Tourenski-Kameraden haben sich unter jauchzenden Rufen in Richtung Tal begeben. Angeber! Geübte Schneeschuhwanderer können, so verrät mir ein Tiroler, auch auf den Schneeschuhen ein wenig skifahrartig rutschen, ich bin zwar nicht geübt, aber meine Schneeschuhe entscheiden sich trotzdem für diese Variante:  Ich rutsche mit gefühlten 88 km/h über die eisige Piste. Mein Mantra lautet: In deiner lilafarbenen Hose und mit der bunten Mütze aus Ecuador werden sie dich spätestens morgen früh aus der Lawine ausgraben oder in einer Schlucht finden. Die Spitäler hier sind auf Wintersportopfer bestens vorbereitet, man wird sofort auf ein Fließband gelegt und vorsichtshalber von oben bis unten durchoperiert. Vielleicht überlebst du das alles!

In den Momenten der rasanten Sturzfahrt bin ich nicht sicher, ob Schneeschuhwandern langfristig meine Lieblings-Sportart werden wird, aber zumindest beschleunigt es unverhofft die Aussicht auf einen warmen Tee und ein Käsebrot, unten im Tal. Den Rest der Strecke bewältige ich auf einer Kinder-Holzrodel. Ich bin zuletzt als Kind gerodelt und schließe gelegentlich vor Verzweiflung die Augen, wenn auf der zum Teil vereisten, gewundenen Rallyepiste die Schlucht zu nahe kommt. Ich versuche, eine alte Rodeltradition nicht zu untergraben, die besagt, dass man glücklich aussehen muss. Beim Bezwingen der Hänge haben wir nämlich etliche Rodler gesehen, alle ein fröhliches Lächeln auf den Lippen und das sei, so die Einheimischen, immer so. Rodeln=Lächeln=Vergnügen. Rodler, die weinen oder trübselig aussehen, existieren in Tirol nicht. Wer älter ist als fünf Jahre, muss fröhlich rodeln, auch wenn er befürchtet, dass es ihm beim Bremsen (falsche Technik!) gleich das Knie zerreißen wird.

Ich möchte natürlich nicht die Statistik kaputtmachen und schenke allen, die mir bergauf laufend entgegenkommen und bei denen es mir gelingt, sie nicht umzufahren, ein Lächeln. Mein schönstes Kompliment des Tages kommt, unten im Tal, von einem Tiroler: „Woher kannst Du so gut rodeln? Du warst total schnell unterwegs!“ Soll ich ihm jetzt erzählen, dass meine Bremskünste eher darin liegen, mich im Ernstfall beherzt von der Rodel zu stürzen, was besser ist, als in die Schlucht zu fallen? Der Mensch lebt von der Illusion. Ich schenke ihm mein schönstes Rodel-Lächeln.

Silvia Meixner ist Journalistin und Herausgeberin von http://www.good-stories.de

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