Im Straßenverkehr passieren einem manchmal die tollsten Geschichten. Da biege ich gestern in ein Einkaufszentrum ab und rolle gemächlich auf den Parkplatz zu. Da ich die Wahl zwischen zwei Spuren habe und die linke leer ist, ordne ich mich dort ein. In der Nebenspur warten drei Rechtsabbieger auf Lücken im vorfahrtberechtigten Querverkehr. Kaum nähere ich mich dem Haltestrich, drängelt sich plötzlich, mit vollem Radeinschlag, ein drüben in zweiter Position dümpelnder Toyota Prius über die durchgezogene Linie in meine freie Bahn. Bei der Wahl zwischen einer Vollbremsung und aggressivem “Das-laß-ich-mir-nicht-gefallen” entscheide ich mich spontan für letzteres, drücke auf die Hupe, leiste mir dank fehlenden Gegenverkehrs einen kleinen Schlenker und dränge mich neben den nun abrupt abbremsenden Prius.
Eigentlich sollte man ja bei Verkehrszwisten Augenkontakt von Auto zu Auto vermeiden, um den Gegenspieler nicht zu weiteren Aggressionen zu provozieren—aber meine Neugier zwingt mich einfach, einen Blick ins Nachbarcockpit zu werfen. Da schleudert mir eine blonde Frau mittleren Alters mit verkniffener Visage schieren Haß entgegen; erst droht sie mit wild schlenkerndem Zeigefinger, dann geballter Faust, und sie schreit irgendwas bestimmt nicht Freundliches. Oha, das ist in der Tat ungewöhnlich und paßt so gar nicht zu der eigentlich eher gemächlichen Atmosphäre meiner amerikanischen Unikleinstadt. Normalerweise kann man sich in so einer Situation darauf verlassen, daß entweder schuldbewußt unschuldig weggeguckt wird oder den Kontrahenten, begleitet von abbittendem Achselzucken, ein stummes “Sorry” über die Lippen huscht, bevor jeder wieder seiner Wege fährt.
Ich bin zwar ein bißchen unangenehm überrascht, aber denke mir nichts weiter dabei und setze meine Fahrt zielbewußt fort. Als ich vor einem Drive-by-Postkasten die notwendige Kehrtwende mache, um vom Fahrersitz aus an den Briefschlitz zu kommen, steht auf einmal der Prius vor mir und verstellt den Weg. Was, die Dame hat mich verfolgt? Hm, das ist nun allerdings noch außergewöhnlicher als außergewöhnlich—immerhin war ich eindeutig im Recht, und zu einer Karambolage ist es nicht gekommen.
Da ich angesichts des Hindernisses mit fuchtelnder Frau meine Briefe nicht einwerfen kann, setze ich rückwärts, fahre langsam an dem Prius vorbei. Die Fahrerin kreischt aus dem offenen Fenster. Als ich auf gleicher Höhe mit ihr bin, lasse auch ich mein Fenster herunter; wäre ich ein schlagfertiger Mensch, würde ich jetzt flott was Anzügliches säuseln, aber so belle ich nur kurz: “Are you crazy? You were clearly in the wrong when you crossed the line and tried to cut me off.”
“You are crazy. You are crazy. You nearly hit me, you damn fool”, kreischt sie—wobei sie nicht nur ihren Mangel an Einsicht, Vernunft und guter Kinderstube verrät, sondern mit ihrem starken Akzent—“cräsie”—auch ihre Herkunft: Die Frau ist aus deutschen Landen.
“It was your mistake, so you better shut your mouth,” rufe ich. “Halt doch die Klappe, dumme Gans,” möchte ich noch in unserer gemeinsamen Muttersprache hinzusetzen, während ich Gas gebe und mein Fenster schließe, doch sie lehnt sich aus ihrem Spritsparmobil und kommt mir mit letzter Lungenkraft zuvor: “You are not in Schermänie hier, you know.” Ich beobachte im Rückspiegel, wie der Prius etwas unentschlossen in die entgegengesetzte Richtung davondümpelt, und mache mich auf die Räder, um erstmal beim Drive-in meiner Bank einen Scheck zu deponieren.
Hat mich die irre Teutonin ebenfalls am Akzent erkannt, oder hat sie schlicht rückgeschlossen von meinem dicken deutschen Schluckspecht, einem in den USA seltenen VW Phaeton, auf dessen Nummernschild zudem ein deutsches Wort prangt? “You are not in Schermänie hier, you know.” Ach, fast hätte man’s doch glauben können.