Das Unwort dieser Tage heißt „Leihstimmen“. Wer sich über Leihstimmen beschwert, unterstellt, dass die deutschen Parteien Wahlstimmenbesitzer sind. Dass Wähler also ihre Stimmen widerrechtlich an andere Parteien verleihen. Als hätte die CDU die Stimme von Herrn Müller mit Brief und Siegel erworben, und der gibt die Stimme, die ihm gar nicht mehr gehört, unverschämterweise an die FDP weiter. Das ist ein Weltbild, wie es sich nur Politiker zusammenbasteln können, deren ganze Welt aus Parteibüchern besteht.
Wie viele Wähler sind denn heute noch fest an eine Partei gebunden? In Niedersachsen sagten 15 Prozent der Leute, dass sie jedes Mal die selbe Partei wählen. 15 Prozent treue Parteisoldaten. Eine kleine, verbissene Minderheit. Die restlichen 85 Prozent schauen sich die Angebote an und entscheiden dann nach Lage. Viele haben Präferenzen, neigen zu den einen oder anderen. Aber sie neigen eben nur. So ist er nun mal, der lästige, weil vernunftbegabte Wähler. Es mag sein, dass er am liebsten Rotwein trinkt. Aber zur Forelle trinkt er gerne auch mal einen Weißwein.“ Das ist bitter für den Rotweinvertreter. Aber gut fürs Weingeschäft.
Und nun will es das deutsche Schicksal, dass jeder Wähler zwei Stimmen hat. Was macht also der eigensinnige Wähler? Er denkt sich etwas beim Wählen und teilt seine Stimmen, wenn er meint, dass er damit sein Ziel am ehesten erreicht. Was ist das Ziel? Es deckt sich – so ist das Leben - nicht mit der Parteipolitik. Der Wähler versucht nämlich, eine bestimmte Regierung zu wählen und nicht unbedingt eine Partei. Es ist ein verzweifelter Versuch. Denn unser Wahlsystem macht das Wählen zum Lotteriespiel. Man glaubt, schwarz-gelb zu wählen und endet mit schwarz-rot. Oder man glaubt rot-grün zu wählen und landet wieder bei schwarz-rot. In Niedersachsen hat immerhin ein Lager eine hauchdünne Mehrheit hinbekommen. Aber oft fallen die vermeintlichen Lager auseinander, weil die Zahlen nicht mitspielen.
Die Amerikaner wählen ihren Regierungschef direkt. Obama oder Romney. Die Franzosen auch. Sarkozy oder Hollande. Da gibt es kein Vertun. Wir aber stochern im Nebel. Wir wählen ein Parlament und keinen Kanzler und können nur hoffen, dass dabei die Regierung heraus kommt, die wir uns wünschen. Was also tut man, um dem Glücksspiel einen gewissen Drall, vielleicht sogar eine Richtung zu geben? Man wählt taktisch. Mal mit Erfolg, mal ohne. Aber immer mehr Leute tun dies.
In Hannover haben Leute, die zur CDU neigen, sich aber nicht komplett an sie verkauft haben, aus taktischen Gründen FDP gewählt. Sie haben ihre Stimmen geteilt. Die Erststimme für den CDU-Direktkandidaten, die Zweitstimme der FDP. Auch FDP-Wähler taktieren, wenn auch in bescheidenerem Maß, indem sie ihre Erststimme zum Beispiel der CDU geben. Eigentlich fühlen sie eher liberal, aber nur die ganz Treuherzigen geben ihre Erststimme einem FDP-Kandidaten, der keine Chance hat, durch zu kommen.
Das Gleiche gilt für SPD und Grüne. Wie viele Herzensgrüne geben ihre Erststimme dem SPD-Kandidaten, weil ihr grüner Freund keine Chance auf ein Direktmandat hat? Wie viele Sympathisanten der SPD machen in der zweiten Rubrik ihr Kreuzchen bei den Grünen, weil ihnen der nicht gerade herzige Sozialdemokrat Steinbrück sauer aufstößt? Und wer bekommt wohl die Stimmen enttäuschter Linke-Wähler? Sind sie nur geliehen oder schon zurückerobert? Wer weiß das schon.
Leihstimmen sind Stimmen von Menschen, die denken. Und keine Partei kann den Wählern befehlen, zu leihen oder nicht zu leihen, zu splitten oder nicht zu splitten. In der Wahlkabine ist der Mensch frei und treulos und tut einfach, was er will. Treuepunkte gibt es beim Supermarkt an der Ecke, aber nicht am Wahltag.