Gastautor / 19.01.2013 / 17:37 / 0 / Seite ausdrucken

Die Legende vom Tabu

Reinhard Mohr

Karl Marx hatte nicht immer Recht. Wenn sich die Geschichte wiederholt, wechseln sich Farce und Tragödie mehr als einmal ab. Ein Ende ist nicht in Sicht. Die seit Wochen anhaltende Debatte über Antisemitismus in Deutschland, deren Hauptprotagonisten Jakob Augstein und Henryk M. Broder sind, offenbart dies umso mehr, als die Erinnerung an vergangene Wortschlachten keine Rolle zu spielen scheint. Für den Streit zwischen Martin Walser und Ignatz Bubis nach der berüchtigten Paulskirchen-Rede des Schriftstellers 1998, der sich über die “vorgehaltene Moralpistole” namens Auschwitz beschwerte und mutig bekannte, “bestimmt schon zwanzigmal weggeschaut” zu haben, wenn im Fernsehen Dokumentarfilme über den Holocaust liefen, gilt dies genauso wie für die Auseinandersetzung zwischen Möllemann und Friedman vor gut zehn Jahren.

Jetzt erleben wir ein neues Spektakel, dessen äußerer Anstoß die Entscheidung des Simon-Wiesenthal-Centers war, Jakob Augstein auf Platz 9 einer weltweiten Liste von Antisemiten zu setzen. Nun aber geht es oberflächlich gesitteter zu. Die politische Korrektheit hat so viele Filter eingebaut, dass Klartext, so oder so, zur seltenen Ausnahme geworden ist. Zwar werden immer wieder alarmierende Studien über antisemitische Einstellungen in der Bevölkerung veröffentlicht, die Werte von bis zu 30 Prozent ergeben, aber wenn es um einzelne, leidlich bekannte Personen geht, wird schnell der Persilschein ausgestellt. Zuletzt ging er per Express an Augstein – vom Zentralrat der Juden persönlich.

Fast immer steht ein Topos im Zentrum der Debatte: Die Legende vom “Tabu”, vom angeblichen Verbot, Israels Politik zu kritisieren. Nach einem Möllemann-kritischen Beitrag im ARD-“Bericht aus Berlin” im Frühjahr 2002 fragte ein Zuschauer: “Ist aus dieser Sendung nun eine jüdische Propagandasendung geworden?” Moderator Thomas Roth erlaubte sich seinerseits einen “Tabubruch” und zitierte aus Briefen an die Redaktion: “Warum bomben wir nicht Tel Aviv, um die Juden endlich zu zwingen, ihre mörderische Besatzung zu beenden?”

Inzwischen ist der Beruf des Israelkritikers ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Anders als bei weniger einträglichen Berufszweigen wie dem Syrien- und Irankritiker bietet der öffentliche Raum dem Israelkritiker ein dankbares Betätigungsfeld. Auffallend allerdings, dass sich der Israelkritiker, obwohl von zahlreichen Gesinnungsgenossen umgeben, stets als Teil einer bedrohten Minderheit wähnt, umzingelt von jüdischen Verleumdern, die nur auf das nächste Stichwort warten, um gnadenlos zuzuschlagen. Und hier haben wir sein psychologisches Hauptmotiv: Der Israelkritiker verkörpert die verfolgte Unschuld. Er ist ein Opfer der Verhältnisse, die von dunklen, anonymen Mächten beherrscht werden. So ist er auch ein Revoluzzer, ein Revolutionär. Die perfekte Rolle für einen deutschen Intellektuellen, der gern solidarisch ist mit den Unterdrückten dieser Welt. Wenn andere aus Angst schweigen müssen, spricht er die verfemte Wahrheit offen aus: Täter sind nun die anderen. Was für eine Befreiung!

Selbst Literaturnobelpreisträger Günter Grass zitterte vor der eigenen Kühnheit, als er in seinem famosen Gedicht mit “letzter Tinte” Israel zur Gefahr für die ganze Welt erklärte. Wie gut, dass wenigstens Jakob Augstein ihm tapfer beisprang: “Es ist dieser eine Satz, hinter den wir künftig nicht mehr zurückkommen”, donnerte er: ‘Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden.’ Dieser Satz hat einen Aufschrei ausgelöst. Weil er richtig ist. Und weil ein Deutscher ihn sagt, ein Schriftsteller, ein Nobelpreisträger, weil Günter Grass ihn sagt.”

Vor allem aber, weil ein Deutscher ihn sagt. Ein Deutscher, der in jungen Jahren durch tragische Umstände ein paar Monate bei der Waffen-SS verbrachte. Den “Judenknax” überwinden nannte dies einst der Kommunarde Dieter Kunzelmann. Zusammen mit der “jüdischen Lobby” in Amerika ist es dann nur eine ausgestreckte Armlänge zur akuten Kriegsgefahr durch das organisierte Weltjudentum. Doch Jakob Augstein macht sich auch seine eigenen Gedanken: “Das Feuer brennt in Libyen, im Sudan, im Jemen, in Ländern, die zu den ärmsten der Welt gehören. Aber die Brandstifter sitzen anderswo… Wem nützt solche Gewalt? Immer nur den Wahnsinnigen und den Skrupellosen. Und dieses Mal auch wie nebenbei – den US-Republikanern und der israelischen Regierung.” Also doch wieder eine jüdische Weltverschwörung? Was sonst: “Mit der ganzen Rückendeckung aus den USA, wo ein Präsident sich vor den Wahlen immer noch die Unterstützung der jüdischen Lobbygruppen sichern muss, und aus Deutschland, wo Geschichtsbewältigung inzwischen eine militärische Komponente hat, führt die Regierung Netanjahu die ganze Welt am Gängelband eines anschwellenden Kriegsgesangs.” Wenn das keine perfekte Beweisführung ist. Der berufsmäßige Israelkritiker zeigt die klassischen Stereotype des Antisemiten, der zugleich ein eifernder Anti-Amerikaner ist, ein Anti-Westler sowieso.

O-Ton Augstein: “Das politische System ist in der Hand des Kapitals und seiner Lobbyisten. Die Checks and Balances haben versagt. Und eine perverse Mischung aus Verantwortungslosigkeit, Profitgier und religiösem Eiferertum beherrscht die öffentliche Meinung. Der Untergang des amerikanischen Imperiums hat begonnen.” Das ist Amerika in den Augen eines modernen deutschen Herrenmenschen mit dem notorisch guten Gewissen: Morsch bis in die Knochen. Und Israel? Da war Augstein noch nie. Und da will er auch nicht hin. “Ich möchte nicht in Tel Aviv am Strand liegen, wenn ein paar Kilometer südlich die Lage ist, wie sie ist.”

Er meint Gaza. Dass 200 Kilometer nördlich der syrische Diktator Assad tagtäglich seine Landsleute abschlachten lässt, würde ihn beim Sonnenbaden nicht stören. Ob in Juden- oder Urlaubsfragen: Ohne meinen Augstein sag’ ich nichts.

Zuerst erschienen in LITERARISCHE WELT

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