Aber wer die Frage, was im 21. Jahrhundert antisemitisch ist, vorrangig in den Dimensionen von Auschwitz diskutiert, will die Debatte beenden, bevor sie begonnen hat. Soll man über aktuelle Formen der Diskriminierung von Frauen nicht reden dürfen, weil keine Hexen mehr verbrannt werden? Darf man keine Homophobie mehr beklagen, weil wir die Homo-Ehe und einen schwulen Außenminister haben? Gemessen an der Hexenverbrennung gibt es keine Frauendiskriminierung mehr. Gemessen an Streicher ist niemand ein Antisemit. Ressentiments wandeln sich, in der Regel von plump zu subtil. Wer früher „Scheiß-Ausländer“ sagte, schwadroniert heute über „kulturelle Überfremdung“. Und das Motto des „Stürmers“, das die Zeitschrift seit 1927 auf ihrer Titelseite hatte – „Die Juden sind unser Unglück“ –, heißt in moderner Übersetzung: „Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden“ (Günter Grass). Damals wie heute werden dem Gegner zerstörerische Allmachtsfantasien unterstellt sowie die reale Fähigkeit, diese auch auszuleben. Aus „den Juden“ ist die Chiffre „Israel“ geworden, also das Land selbst, nicht etwa eine bestimmte Regierung oder Politik. http://www.tagesspiegel.de/meinung/debatte-um-jakob-augstein-was-im-21-jahrhundert-antisemitisch-ist/7602976.html