Gastautor / 30.12.2012 / 11:57 / 0 / Seite ausdrucken

Klopfzeichen aus der Welt der Sozialwissenschaften (Folge 3)

Thomas Petersen

Wissen ist besser als Nichtwissen

Der große Kernphysiker Heinz Maier-Leibnitz (1911-2000) war ein stiller, für Außenstehende etwas verschroben wirkender Mann, der bereits über achtzig Jahre alt und etwas klapperig war, als ich ihn kennenlernen durfte. Und so hörte ich ihm dummerweise meist nicht besonders gründlich zu und verbuchte es gedanklich unter Altersstarrsinn, wenn er wieder und wieder so scheinbar banale Sätze sagte wie „Wissen ist besser als Nichtwissen.“ Erst nach und nach wurde mir klar, dass diese Sätze keinesfalls so banal waren, wie sie auf den ersten Blick schienen. Wer einmal darauf aufmerksam geworden ist, der staunt, wie oft sich die Menschen für das Nichtwissen entscheiden.

In gewisser Hinsicht ist die Furcht vor Erkenntnis durchaus verständlich. Wahrscheinlich kann sie jeder nachvollziehen, der sich schon einmal vor dem Gang zum Arzt gefürchtet hat, weil er die Diagnose nicht hören wollte. Dennoch war ich kürzlich schockiert über das Ausmaß der Realitätsverweigerung, das mir bei der Präsentation einer aktuellen Untersuchung in Berlin entgegenschlug. Ein großes Verlagshaus hatte zu einer Podiumsdiskussion eingeladen. Zunächst sollte ich die Ergebnisse einer aktuellen Untersuchung über das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen präsentieren, dann sollten ausgewählte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens auf dem Podium darüber diskutieren. Die Studie erbrachte ein überraschendes und Besorgnis erregendes Ergebnis: Während in der Öffentlichkeit intensive Diskussionen über angebliche Vorurteile der westdeutschen Bevölkerung gegenüber Ostdeutschen geführt werden, zeigen die Daten eindeutig, dass es in der ostdeutschen Bevölkerung viel größere Vorurteile gegenüber Westdeutschen gibt als umgekehrt.

Auf dem Podium befanden sich unter anderem eine führende ostdeutsche Landespolitikerin, eine prominente, in Ostdeutschland tätige Intellektuelle und - bei solchen Runden offenbar unvermeidlich - eine Studentin aus Ostdeutschland, die nach dem Motto „wir wollen auch die Jugend zu Wort kommen lassen“ dem etwas gönnerhaft gestimmten älteren Publikum die Sicht der jungen Generation nahe bringen sollte. Ihr ist immerhin hoch anzurechnen, dass sie sich wirklich zum Thema der Diskussion äußerte und nicht, wie es sonst in solchen Situationen meist der Fall ist, die Zuhörer mit langatmigen Ausführungen darüber langweilte, was man alles Tolles mit dem Internet machen kann.

Diese drei Damen schwangen sich nun auf, die Qualität der kurz vorher präsentierten Untersuchung zu beurteilen, ohne auch nur eine Sekunde auf den Gedanken zu verschwenden, dass ihnen dafür vielleicht die Kenntnisse fehlen könnten. Die Landespolitikerin verkündete, dass die Resultate nicht stimmen könnten, weil es in ihrem Bundesland so schön dynamisch voranginge und sie bei ihren Besuchen in vielen Betrieben nie etwas von Vorurteilen gegenüber Westdeutschen gehört habe. Die Studentin gab zu Protokoll, dass ihre Freunde ja ganz anders seien als die Ergebnisse suggerierten, und dass deswegen wohl die falschen Personen befragt worden seien. Die Intellektuelle, mit allerhöchstem akademischem Hintergrund, erkannte, dass die Zahlen nicht ganz wegzudiskutieren waren. Sie brauchte immerhin drei elegante Sätze um zu erklären, dass wenn Ostdeutsche Vorurteile gegenüber Westdeutschen hätten, dies allein die Schuld der Westdeutschen sein müsse.

Es war zum Verzweifeln. Deprimierend war dabei nicht die Unfähigkeit, die statistischen Gesetzmäßigkeiten zu verstehen, die der Umfrage zugrunde lagen, denn das ist weit verbreitet, daran ist man als Umfrageforscher gewöhnt. Absolut niederschmetternd war dagegen die geradezu finstere Entschlossenheit, die Ergebnisse der Untersuchung nicht zur Kenntnis zu nehmen, ja sie geradezu zu bekämpfen. Doch die Vorurteile Ostdeutscher gegenüber Westdeutschen gehen nicht weg, wenn man sie leugnet. Im Gegenteil: Man kann Probleme nicht bekämpfen, vor denen man die Augen verschließt. Heinz Maier-Leibnitz hatte recht: Man kann es nicht oft genug betonen: Wissen ist besser als Nichtwissen!

Dr. Thomas Petersen ist Projektleiter beim Institut für Demoskopie Allensbach

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