Thomas Petersen
Der Kürbis des Kolumbus
„Männer und Frauen passen einfach nicht zusammen“ lautet einer der berühmtesten Sätze Loriots, oft und gerne zitiert als Musterbeispiel für das Scheitern menschlicher Kommunikation. Die Verständnisprobleme zwischen Mann und Frau als Krönung des gegenseitigen Nichtverstehens.
Loriot hatte ja keine Ahnung!
Das gegenseitige Nichtverstehen von Männern und Frauen ist harmlos gegenüber dem Ausmaß, in dem empirisch arbeitende Sozialforscher und andere Menschen aneinander vorbeireden. Mit „empirisch arbeitenden Sozialforschern“ sind solche Wissenschaftler gemeint, die die Gesellschaft nicht nur durch das Aufstellen möglichst imposanter Theorien zu erklären versuchen, sondern die sich der Gesellschaft beobachtend, messend und zählend nähern. Sie stellen immer wieder die erstaunlichsten Sachverhalte fest, können belegen, dass sich Menschen und Gesellschaften ganz anders verhalten, als allgemein angenommen wird, doch es ist kaum möglich, diese Befunde oder auch nur die Methoden, mit denen sie ermittelt wurden, einem breiten Publikum nahezubringen. Vermutlich besteht nur noch bei einigen Naturwissenschaften ein vergleichbar tiefer Graben zwischen Forschern und ihrem Publikum abseits der engeren Fachkreise.
Man kann das Problem bildhaft mit einer imaginären Filmszene illustrieren, die mein Freund Robert und ich uns vor zwanzig Jahren ausgedacht haben. Damals, im Jahr 1992, feierte die Welt den fünfhundertsten Jahrestag der Entdeckung Amerikas. Hollywood überschwemmte die Kinos mit Kolumbus-Filmen, einer pathetischer und humorloser als der andere. Wir überlegten uns im Spaß, wie wohl ein Kolumbus-Film aussehen müsste, der uns gefiele. Dabei entwickelte Robert die folgende Szene:
Kolumbus versucht auf dem Marktplatz in Genua ein Grüppchen von skeptischen Zuhörern davon zu überzeugen, dass die Erde eine Kugel ist. Er greift sich von einem Marktstand einen Kürbis und hält ihn seinem Publikum entgegen (ja, ich weiß, Kürbisse stammen aus Amerika, aber in unserem Film kam auch ein Indianer vor, der sich vergeblich als Navigator für die Entdeckungsreise bewirbt). „Stellt Euch einmal vor,“ sagt Kolumbus, „dies sei die Erde. Wir leben hier auf der einen Seite. Und da drüben, auf der anderen Seite, ist Indien. Wenn wir Gewürze kaufen wollen, fahren wir immer hier rechts herum. Doch warum eigentlich? Wir könnten doch genauso gut dort linksherum, auf der anderen Seite nach Indien fahren.“ Nachdenklich schweigt das Publikum. Ein Zuhörer runzelt schließlich die Stirn, denkt sichtlich nach. Dann zeigt er auf die Oberseite des Kürbisses und fragt in triumphierendem Tonfall: „Und was passiert, wenn jemand gegen den Stängel fährt?“
Ungefähr so, wie sich Kolumbus in einer solchen Situation gefühlt haben würde, fühlen sich Sozialwissenschaftler oft: Mit großer Mühe hat man eben einen aufschlussreichen Befund so anschaulich wie möglich beschrieben. Man glaubt, dass die Belege schlagend und alle Zweifel beseitigt sind. Doch dann kommt vom Publikum eine Reaktion, die zeigt, dass der Befund nicht zur Kenntnis genommen wird, die Argumente nicht verstanden und die vermeintlich so schlagenden Beweise als solche nicht erkannt werden. Das scheinbar so anschauliche Bild zur Erklärung des Befundes wird nicht nur nicht verstanden, sondern darüber hinaus uminterpretiert, so dass es schließlich mehr zur Verwirrung als zur Klärung beiträgt. Dann steuert ein Zuhörer eine sachlich irrelevante persönliche Anekdote zur Diskussion bei, die von den anderen Zuhörern ohne zu Zögern als Gegenbeleg zum wissenschaftlichen Befund akzeptiert wird. Der Wissenschaftler rauft sich die Haare, das Publikum fällt sein Urteil.
Solche Missverständnisse rühren daher, dass empirisch arbeitende Wissenschaftler und die große Mehrheit der Bevölkerung es gewohnt sind, vollkommen unterschiedlich zu denken. Es ist, als lebten Sozialwissenschaftler und Nichtsozialwissenschaftler auf verschiedenen Planeten. Und doch lohnt es sich, zu versuchen, den Graben zwischen den beiden so unterschiedlichen Denkwelten zu überwinden. Die Sozialwissenschaften, so sperrig ihre Methoden auch sind, so wenig überzeugend ihre Erkenntnisse oft auch scheinen mögen, haben das eine oder andere Nützliche zu sagen. Es lohnt sich also, sich mit ihrer eigenartigen Denkweise auseinanderzusetzen. In den folgenden Monaten soll deswegen mit einer Serie kurzer Artikel der Versuch gemacht werden, den Lesern der „Achse des Guten“ die Weltsicht eines Umfrageforschers, also eines typischen Vertreters der empirisch arbeitenden Sozialwissenschaften, nahezubringen. Es sind Klopfzeichen aus einer anderen Welt. Vielleicht hört sie ja jemand.
Dr. Thomas Petersen ist Projektleiter beim Institut für Demoskopie Allenbach