Von Jonas Lengsfeld
Unbemerkt von der Öffentlichkeit und von der Politik ignoriert hat sich in der Bilanz der Bundesbank ein Target-Saldo von derzeit (Oktober 2012) 719 Milliarden Euro angehäuft. Dies übersteigt den Bundeshaushalt 2012 um das Doppelte. Der Geldwert entspricht dem von günstigen Kleinwagen für alle Deutschen. Aneinandergereiht würde diese Autos sechs Mal um den Äquator reichen. Dies sollte genügen, um die Dimensionen klarzumachen, um die es hier geht. Wie aber kommt dieser Saldo zustande und was bedeutet er? In einem Gastbeitrag für das Handelsblatt bringt der an der Universität London lehrende Europarechtler Gunnar Beck Licht in diese nebulöse Angelegenheit. Immer noch spielen sowohl die Europäische Zentralbank (EZB), als auch die Bundesregierung, das Problem herunter. Es handele sich bei den Salden lediglich um irrelevante Verrechnungsposten, die niemanden als die Buchhalter der europäischen Zentralbanken interessieren müssten, so die Beschwichtigungen. Gunnar Beck widerspricht dem energisch, genau wie der bekannte deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn, der die öffentliche (wenn auch kleine) Debatte zu diesem gigantischen Problem angestoßen hat.
Beck interpretiert die Target Salden als das Ergebnis eines „Billionen-Solizuschlags für die Krisenländer.“ Die Diskussion werde von den Verteidigern des Systems geschickt verkompliziert. Dabei handele es sich um einen „im Grunde einfachem Mechanismus.“ Beck beleuchtet das System mit einem Beispiel: „Angenommen ein spanisches Unternehmen bestellt fünfzig Dieselmotoren aus Deutschland. Nach Wareneingang weist der Importeur seine spanische Hausbank an, das Geld an den Exporteur zu überweisen. Dies geschieht unter Einschaltung der Zentralbanken über das EZB-Target2-System. … Der Importeur erhält die Motoren, und der Exporteur bekommt sein Geld, und alles scheint im Lot. Wohlgemerkt scheint.“Nun führt Beck aus, was die Besonderheit an Target ist. Diese bestehe darin, “dass das Geld Spanien nie verlässt und in Deutschland nie ankommt.“
Hans-Werner Sinn veranschaulicht den Vorgang folgendermaßen: Jemand fehlt Geld, um einen Handwerker zu bezahlen. Also fragt er einen Freund, ob dieser ihm das Geld vorstrecken kann. Der Freund bezahlt den Handwerker und hat damit wiederum einen Kredit an seinen Freund vergeben. Der Unterschied zwischen diesem Beispiel und der Realität ist, dass niemand die Bundesbank um das Geld bittet, sondern diese gezwungen ist, zu überweisen und dass sie den Kredit im Nachhinein nicht eintreiben kann. Darüber hinaus wird der vergebene Kredit mit einem Zinssatz weit unter der Inflation verzinst.
Unter diesen Gesichtspunkten ist die Behauptung, die deutsche Haftung bei der Euro-„Rettung“ läge bei nur 190 Milliarden Euro, absurder denn je. Sollte einer der Krisenstaaten Pleite gehen, ständen auch die Target-Kredite im Feuer. Die Verluste würden zunächst gemäß dem Kapitalschlüssel zwischen den EZB-Mitgliedern aufgeteilt – Deutschland hat nach diesem Schlüssel einen Anteil von 27 Prozent. Bräche jedoch der Euro als Ganzes zusammen und mit ihm die EZB, wären die Ansprüche auf die derzeit über 700 Milliarden (es könnte dann ein noch sehr viel größerer Betrag sein) zwar nicht erloschen, aber uneinbringlich.
Von der Öffentlichkeit unbemerkt hat das Target-System den Deutschen eine 700 Milliarden Euro schwere Fußfessel angelegt, die sie an das Fortbestehen der EZB bindet. Keine Regierung, die während ihrer Amtszeit einen derart großen Verlust verantworten muss, könnte noch mit der Wiederwahl rechnen. Target ist eine politische Zeitbombe, auf der keiner sitzen will, wenn sie hochgeht. Sie zu entschärfen würde Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, dauern. Einstweilen kann man die Detonation nur hinauszögern, indem man dem bereits im Feuer stehenden Geld weiteres hinterher wirft, jeden „Rettungsfonds“ absegnet, nichts gegen die verbotenen Anleihekäufe unternimmt und sich im EZB-Direktorium von den Regierungen der Peripherie-Länder auf der Nase herumtanzen lässt. Kanzlerin und Regierung mögen diesen Kurs alternativlos nennen. Für den deutschen Steuerzahler ist er eine Katastrophe.
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Dieser Artikel erschien zuerst auf: FreieWelt.net