Gewiss wirkt Amerikas ethnische Spaltung nach den Wahlen vom November 2012 abgründiger als je zuvor in den letzten fünfzig Jahren. Das liegt aber nicht daran, dass der Präsident die „Rassenkarte“ gespielt oder gar in Code-Sprache gegen Weiße einen Hass auf „Reiche“ geschürt hätte. Obama verfügt über ein anderes Format. Sogar vor seinem ersten Wahlerfolg im November 2012 scheut er sich nicht, auch Afro-Amerikaner mit Forderungen nach Schulfleiß zu irritieren. Funktionäre vom alten Schlag eines Jesse Jackson, der gegen Bill Clinton selbst einmal erster schwarzer Präsidentschaftskandidat der Demokraten werden wollte, hätten ihn dafür am liebsten kastriert - wie eine versehentlich mitgeschnittenes Gespräch im Juli 2008 offenbart.
Amerika ist erstmals auf eine rational leicht nachvollziehbare Art polarisiert, weil vor Obama sich nun einmal kein Demokrat klassisch linke Politik getraut hat. Was heißt das? Wer nicht lernen kann, bekommt immer wieder eine neue Ausbildung. Wer arbeitslos wird, erhält länger als je zuvor Geld vom Staat. Wer in der Konkurrenz der Arbeitsmärkte dauerhaft scheitert, behält seine Menschenwürde und wird ein Leben lang versorgt. Wer in Alters- und Krankenversicherungen nicht einzahlen kann, darf dennoch immer auf Auszahlungen rechnen. Anders kann eine linke Politik, die diesen Namen verdient, nicht operieren. Das läuft in Washington genauso wie in Wien oder Berlin. Amerikas reine Sozialausgaben springen durchaus heftig von 9 Milliarden Dollar 1960 (1,6% BSP) auf 1000 Milliarden Dollar 2012 (7% BSP). Doch Obama allein sorgt zwischen 2008 und 2011 für eine Steigerung um 32%.
In allen ethnischen Gruppen hören die Hilflosen Obamas Versprechen und bedanken sich mit ihrer Stimme. Da einige Gruppen mehr Hilflose aufweisen als andere, gibt es die unterschiedlichen Sätze zwischen 40 und 90 Prozent Zustimmung für Obama. Aber unversorgte Weiße lieben ihn nicht weniger als andere Abgeschlagene.
Nun gibt es fünf kleine Gruppen, die kein Geld verlangen, sondern für Obama sogar höhere Steuern zahlen wollen: Muslime, Juden, Ostasiaten (Buddhisten), Homosexuelle und kinderlose Karrierefrauen. Bei näherem Zusehen spricht ihr Votum für die Demokraten keineswegs gegen ihre ökonomischen Interessen. Sie eint – berechtigt oder nicht – die Angst vor christlichen Eiferern, die nun einmal republikanisch wählen. Wer islamophob, antisemitisch oder schwulenfeindlich attackiert wird, kann nicht mehr ungestört arbeiten. Und wenn man alleinstehenden Frauen unmoralischen Lebenswandel vorhält, die Geburtenkontrolle erschwert und die Abtreibung kriminalisiert, haben auch sie es schwer beim Verfolgen ihrer Karrieren. Die Amerikaner haben mithin unverstellt nach ihren Interessen gewählt. Und beim nächsten Mal werden noch mehr von ihnen einen Demokraten vorziehen, solange er Obamas Hilfsversprechen unangetastet lässt.
Wiewohl linke Politik in Amerika und Europa deckungsgleich vorgeht, gibt es dennoch gravierende Unterschiede im Wahlvolk. Auf beiden Seiten des Ozeans steigt der Anteil der Hilflosen – allein schon deshalb, weil die Anforderungen wachsen. Kann 1960 rund die Hälfte der Beschäftigten auch ungelernt unterkommen, so wird in wenigen Jahren nur noch jeder Zehnte auch dann Arbeit finden, wenn er zu den Internet-Analphabeten gehört. Ohne eigenes Versagen und ohne Schuld der Demokraten landen immer mehr Menschen selbst bei Halten ihres aktuellen Niveaus im Lager der Hilflosen. Auch Republikaner haben über diese Entwicklung keine Macht.
In Europa gibt es bei der Hilflosigkeit allerdings unterschiedliche Ausprägungen. In den skandinavischen Ländern liegt der Anteil der nicht ausbildungsreif werdenden Schüler unter zehn Prozent. Die kann man versorgen. In Österreich, Deutschland oder Frankreich streut der Anteil um zwanzig Prozent. Dort wird es kritisch.
Einige Gebiete zeigen sogar handfest, ab wann eine Gesellschaft zerbricht. In den Bundesländern Bremen oder Berlin beispielsweise liegt der Anteil der nicht ausbildungsreif werdenden Bevölkerung bei rund dreißig Prozent. Bei diesem Verhältnis können die Hilfefähigen die Hilflosen nicht mehr menschenwürdig bezahlen. Ohne die Finanzspritzen aus Bayern, Baden-Württemberg oder Hessen gäbe es heute schon Gewalt und Chaos. Die Selbstversorger würden fliehen und die allein gelassenen Hilflosen wären in den nackten Überlebenskampf genötigt.
Amerika ähnelt weder Skandinavien noch Bayern, sondern Bremen und Berlin. Wer die Verzweiflung dieser Bundesländer vor Augen hat, gewinnt eine Ahnung von Amerikas Hürden. Dass seine Bevölkerung unter 18 Jahren schon jetzt zu vierzig Prozent aus Afrika und Lateinamerika stammt und sogar fünfzig Prozent der Neugeborenen aus diesen Gruppen kommen, ist dabei nicht das Problem. Wer die Kinder hat, bekommt nun einmal das Land. Die Schwierigkeiten liegen woanders und werden von der Regierung regelmäßig und schonungslos verkündet. Obwohl Washington zwischen 1970 und 2007 die Bildungsausgaben verdreifacht, werden die Schulnoten nicht einen Deut besser (National Center for Education Statistics). Bedenklicher noch, der Vorsprung von JaChinCos (Japaner, Chinesen und Koreaner mit US-Pass) wächst gegenüber allen anderen Gruppen. Doch nicht nur Weiße (mit Ausnahme der Aschkenasen) fallen ab, auch Afrikaner und Hispanics kommen nicht nach vorne. Ihre Vierzehnjährigen erreichen bestenfalls das Niveau von zwölfjährigen Weißen: „Die Testnoten von Minderheitenstudenten [ausser JaChinCos] liegen heute [2012] noch niedriger als vor zehn Jahren. Die Gründe für diesen Rückgang sind nicht gut verstanden, aber die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen stellen die Nation vor ein gewaltiges Problem“ (policyoptions.pbworks.com/w/page/17512522/Achievement%20Gap).
In Bremen mit nur dreißig Prozent des Nachwuchses ohne Ausbildungsreife mag man sich erleichtert zurücklehnen, wenn sogar das mächtige Amerika auf fünfzig Prozent zusteuert. Die hanseatische Linke genießt die beste aller Welten. Eine stetig wachsende Mehrheit an Hilflosen beschert regelmäßig satte Mehrheiten, während Süddeutschland die Rechnungen begleicht. Aber ein Bayern, das Amerika über Wasser halten könnte, gibt es nicht. Zwar sitzen Obamas Leute so sicher im Sattel wie Bremens Spitzen, aber sie müssen die Weltmacht führen oder Konsequenzen tragen.
Obama weiß, dass der heimische Nachwuchs zu der Verteidigung einer Hightech-Ökonomie nicht passt. 49 Prozent der US-Firmen – gegen kaum weniger bedrohliche 42 Prozent der deutschen – können 2012 ihre Stellen nicht besetzen (manpowergroup.us/campaigns/talent-shortage), obwohl das Land 26 Millionen Arbeitslose und Unterbeschäftigte zur Verfügung hat (U-6: 09/12). Deshalb könnte seine Einwanderungspolitik die große Überraschung der zweiten Amtszeit liefern. Bisher hofft man nur auf weitere Legalisierungen der versteckt im Lande Lebenden. Das wird für die Vergrößerung des demokratischen Wählerpotentials auch kommen. Dieser Präsident aber hat das Zeug zur Offensive. Die Ideen dafür liegen längst auf dem Tisch. Für jeden Abiturienten irgendwo auf der Welt, der an einer US-Uni die Aufnahmeprüfung für Ingenieur- und Naturwissenschaften schafft, kommt zu den Immatrikulationspapieren auch noch ein US-Pass in den Briefumschlag. Und wenn das nicht reicht, folgt womöglich eine auf zwei Jahre im Voraus bezahlte Alters-Versicherung, die wieder verliert, wer nicht bleibt. Europa würde dadurch zwar immer noch kein Zahlmeister für ein Mega-Bremen, aber mit ungleich ernsteren Konsequenzen herangezogen als Qualifikationslieferant für die Neue Welt. Die liegt beim Durchschnittsalter immerhin noch vitale zehn Jahre unter den Schrumpf-Vergreisern Mittel- und Osteuropas, hat Energiequellen ohne Ende und kann bei Gefahr sogar mal einen Schuss abfeuern. All das dürfte seinen Reiz nicht verfehlen.