Emma Finkelstein / 06.11.2012 / 03:36 / 0 / Seite ausdrucken

Israel für Anfänger 4: Kaffee, Kuchen und Holocaust

Mit Nirs Mutter Yael fahre ich am Vormittag auf den kleinen Berg, der Yokneam Dorf und Stadt trennt. Oben haben die Kreuzritter Station gemacht, seit ein paar Jahren arbeitet man an den Ausgrabungen. Und rings herum an einer Industriestadt. Ein großer neuer Wolkenkratzer steht neben dem nächsten, und Yael erklärt mir mit Begeisterung, dass die breite Autotrasse zu unseren Füßen auch ganz neu sei.

„Schau, wie schön!“ ruft sie, „das hätten wir uns vor ein paar Jahren noch gar nicht vorstellen können – so viele Autos und alle können fahren.“ Ich versuche mich mitzufreuen und ein wenig Begeisterung zu zeigen. Israel ist Autoland.  Wer hier mit Rad und öffentlichen Verkehrsmitteln überleben will, sollte sich besser einen Garten zur Selbstversorgung und einen home office Job anschaffen.

Wieder unten, lädt mich Yael zum Mittagessen ein. Ihre vier Enkel werden auch im Laufe des Nachmittags kommen, sie habe jedoch „genug“ gekocht. Stimmt. Nach drei Tellern und dem wiederholten Hinweis, es sei noch reichlich da, ich solle mehr essen, holt sie ein Ringbuch mit Fotos aus dem Schrank. „Hier sind alle meine Dokumente drin“, erklärte sie und zeigt auf das erste Foto hinter ein paar Artikeln. Ich sehe einen niedlichen Jungen fröhlich durchs Bild radeln. „Das hier war der Bruder meiner Mutter, der ist in Auschwitz umgekommen.“

Sie blättert weiter, zeigt Artikel aus deutschen Zeitungen vor, die von einem Besuch ihrer Mutter in Steyr erzählen, schaut kurz hoch. „Habt Ihr bei Euch zu Hause eigentlich auch darüber gesprochen?“ Bevor ich antworten kann, fährt sie fort. „Also hier hat anfangs niemand darüber geredet, die waren alle stumm.“ Sie zeigt auf ein jüngeres Foto eines Mannes. „Mit dem bin ich aufgewachsen. Der kam aus Auschwitz. Wir wohnten damals im Kibbuz, da durfte man dann ein Kind bestellten, so und so alt, Junge oder Mädchen. Wir waren zwei Mädchen, da wollten meine Eltern noch einen Jungen. Ein paar Jahre drauf kam dann seine Mutter, die war auch in Auschwitz gewesen und gaga geworden, die hat ihn dann mitgenommen und an ein christliches Kloster in Jerusalem verkauft.“ Ich staune und frage, warum christliche Klöster kleine Kinder kaufen sollten? „Ja, weiß ich? Ich bin doch keine Christin!“

Am Nachmittag bringt mich Nil in die Stadt Richtung Bushaltestelle. Um zum Bus zu kommen, muss ich durch das Einkaufszentrum. Sicherheitspersonal steht am Eingang. Zum Glück begnügt man sich mit einem Check meines Handgepäcks – der 60 Liter Rucksack auf meinem Rücken ruft nur ein müdes Durchwinken hervor.

Und abends bin ich in Tel Aviv.

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